Der Kuss des Messias

Ausgewählte Kapitel in der Rohfassung, v o r Überarbeitung und Lektorierung!

Selten tritt dem Weisen
das Schicksal in den Weg.
Seneca

Ich liebe Joshua!
Nada

Weihnachten

Nie kommt sie an: im weihnachtlichen Schaufenster schiebt sich die Lokomotive, vier schuhkarton-grosse Waggons im Schlepptau, über ihr endloses Geleise. Nach der Geraden entlang der Glasscheibe biegt der Zug ins Tunneldunkel des verzuckerten Berges, taucht wie selbstverständlich wieder auf und tuckert beim Wäldchen am Hexenhaus vorbei, wo Hänsel und Gretel die Hexe gerade in den Ofen stemmen. Nur puppengross sind die beiden, aber für die Hexe sieht es bös‘ aus. Im ersten Wagen sitzt ein bisschen steif der Nikolaus und winkt mit seinem mechanisch animierten Arm, auf und ab, auf und ab. Keine Sekunde vergisst er sein Lächeln. Violett, blau, rot und gelb glänzen die Pakete in den Waggons hinter ihm. Auf der Bergspitze hat das schöne Schneewittchen seine Zwerge um sich geschart. Hans im Glück jongliert mit seiner goldenen Kugel, von durchsichtigen Plexiglasstäben in der Schwebe gehalten. Wie froh er lacht! Das Dornröschen, bereits wachgeküsst, strahlt seinen Prinzen an, augenfällig überzeugt, dass hundert Jahre Warten sich gelohnt haben… Brav und ewig zieht der Zug seine Runden, ob es dem halbnackten Teufel passt oder nicht – der lehnt grinsend am blaubespannten Hintergrund. Passend zu seinen drei goldenen Haaren stösst er einen güldenen Dreizack rhythmisch vor- und zurück. Man traut ihm zu, dass er sich ein Paket aufspiesst, führe des Nikolaus‘ Zug nur ein klein wenig näher vorbei. Ach, und dort: Aschenputtel, die Arme! Hockt, den Kopf schüttelnd, am Boden und fingert sich mühselig die Erbsen. Aber Sankt Nikolaus hält nicht, muss fahren und fahren, winken, winken, Runde um Runde…

Es ist Abendverkauf, zehn vor neun, dann schliessen die Geschäfte. Kaum jemand lässt sich noch zum Staunen verleiten. Die Erwachsenen hasten vorbei, jede Minute zählt, und jenes kleine Mädchen, das stillstehen und schauen möchte, wird von der Mutter weitergezerrt – noch den Schal für Schwester Emilie bei Kalberer.

Um neun Uhr zwei passiert es, wiewohl niemand es bemerkt. Der Dreizack in Teufels klammer Hand springt aus der Halterung und senkt sich um einige Zentimeter. Wie der Weihnachtsmann auf seiner nächsten Runde vorbeikommt, verfängt sich ein Zacken an seinem Ärmel. Nikolaus schwankt bedenklich. Er kann sich zwar im letzten Moment los reissen, aber nun lehnt er unerlaubt weit aus seinem Gefährt. Von stoischer Lebenshaltung grüsst er trotz arger Schräglage weiter. Offensichtlich weiss er nicht, dass kein Unglück allein kommt. Es kommt aber der Tunneleingang, wo sich sein winkender Arm verklemmt und es ihn auf den Rücken wirft. Der Zug reisst ihn ins Dunkel. Dort geschieht weiteres, keine Zeugen sehen es. Jedenfalls kommt Nikolaus barhäuptig heraus und sein Arm schleift neben dem Wagen dahin. Erste Passanten bleiben stehen, die Ansammlung wird rasch grösser.

Jemand lacht schallend. Nikolaus mitgeschleppter Arm wird dem nah am Geleise platzierten Hänsel zum Verhängnis. Gnadenlos erfährt er, wie schnell einem der Boden unter den Füssen weggerissen werden kann. Er kippt aufs Geleis und zieht auch seine Schwester ins Elend. Beim Publikum steigt die Heiterkeit. Ein Dicker ist bereits ausser sich vor Lachen. Der Junge neben ihm, der mit erschrockenen Augen zusehen muss, wie es Gretel aufs Gesicht schlägt, weint. Aber der Dicke ist lauter.